Entdeckungen im havelländischen Rhinluch zwischen Rathenow und Friesack
Zum ersten Wochenende im September hatte sich unser Strampelsextett zu einer zweitägigen Radtour durch das Havelland verabredet. Die Organisation war mir im routinemäßigen Wechsel zwischen den Freunden zugefallen. Das Quartier in einem kleinen Bauerndorf Wolsier zwischen Gülpe und Rhinow gelegen war bestellt, die Tour auf den beim Landesvermessungsamtes angefragten neuen topografischen Karten festgelegt und die Anreisedaten bei der Deutschen Bahn AG abgefragt. Am Freitag war ganz klar zu erkennen, daß wir wettermäßig ideale Bedingungen haben werden.
Brigitte holte uns am Samstag morgen ab und fuhr mit uns zum Bahnhof Dallgow, an der Strecke Berlin- Hannover gelegen. Kurz vor dem Bahnhof erreicht uns Herberts Anruf über Funk, daß ihnen in Friedrichstraße der Regionalzug eine Minute verfrüht vor der Nase abgefahren ist und daß sie versuchen, auf dem schnellsten Wege nach Spandau zu kommen, die nächste Regionalbahn 1 Stunde später zu erreichen.
Wir überbrückten die Wartezeit mit einer Besichtigung der neuen Dallgower Brücke über den Schwanegraben. Auf dem ehemaligen Militärgelände entsteht nach gründlichen Sanierungsarbeiten ein hochwertiges Wohngebiet in Stadtnähe.
Der Schwanegraben wurde ausgebaggert, die beiden Seen in einem tiefen Grabeneinschnitt gelegen bieten in diesem Wohnpark in Randlage Spaziergängern Abwechslung und Erholung in naturnaher Parklandschaft.
11.18 Uhr saß unser Quintett, Ewald war wegen eines Handballlehrganges in Frankfurt a.d. Oder verhindert, endlich neben dem Radabteil im Zug nach Rathenow.
In Rathenow besichtigten wir die Altstadt auf der Havelinsel, entdeckten das Geburtshaus von Pfarrer J. H. August Duncker (*1767), der zu Beginn des 19. Jahrhunderts die erste industrielle Brillenherstellung Deutschlands in Rathenow gründete. Rathenow war bis zum 2. Weltkrieg in diesem Bereich führende optische Industriestadt Deutschlands. Leider wurde die Stadt in den allerletzten Kriegstagen weitgehend zerstört. Auch die Stadtkirche St. Marien Andreas konnte bisher nicht abschließend wieder aufgebaut werden. Am letzten Freitag bewilligte der Brandenburgische Landtag 2,1 Millionen DM für den Wiederaufbau des Kirchturmes.
Wir verließen Rathenow in nordöstlicher Richtung, radelten durch ein ehemaliges Sperrgebiet, querten bald danach den Golfplatz Semlin und fuhren am Hohennauener See entlang nach Hohennauen. Hier verließen wir gleich wieder die belebte Bundesstraße 288 und radelten auf einer glatt asphaltierten ruhigen Straße über Parey hinaus Richtung Gülpe in das Naturschutzgebiet "Untere Havel" hinein. Am Straßenrand passierten wir das große bunte Hinweisschild "Ländchen Rhinow" und waren in einer flachen, von vielen großen Gräben durchzogenen weiten Weidelandschaft des Rhinluches. Die Ortschaften liegen hier weit auseinander, und die Menschen dieser stillen, abgelegenen ländlichen Gegend können nur mit eigenem Auto die nächsten größeren Ortschaften Rathenow, Friesack oder gar die Anfahrt nach Berlin erreichen.
An den Wasserläufen entdeckten wir Graureiher, Schwäne und überall kreisten Raubvögel über dem Land.
Am großen Gülper See bogen wir ab von der Straße und erreichten auf ausgefahrenen Waldwegen einen vom Naturschutzbund eingerichteten Beobachtungsturm vor dem abgesperrten Uferbereich des Sees. Auf einem 80 m breiten Wiesenstreifen, der sich mehrere hundert Meter am Ufer lang zieht quackerten unaufhörlich unzählige Graugänse. Sobald sich Menschen am Waldrand bewegten kam Unruhe in die Ansammlung, und immer wieder flogen ein paar Vögel mit heisernem Geschrei hinaus auf die Wasserfläche des flachen weiten Sees, wo sie sich wieder niederließen. In der warmen Abendsonne konnten wir dieses eigenartige Naturschauspiel längere Zeit bewundern.
Von dort aus radelten wir zu unserem nahen Quartier, inspizierten die Räume und Betten und fuhren danach der Abendsonne entgegen zum Abendessen im Gasthaus Gülpe.
Am nächsten Morgen entdeckten wir auf dem Grundstück unserer Pension in Wolsier ein leeres Storchennest, das erst vor wenigen Tagen von den Storcheneltern und den Jungstörchen verlassen worden war. Das flache Rhinower Ländchen glänzte in der Morgensonne. Am östlichen Horizont näherten wir uns einem langgestreckten bewaldeten Höhenzug, der unvermittelt aus der weiten Ebene aufstieg und von einem weißen Betonturm bekrönt war, den Rhinower Bergen (96 m), einem eiszeitlichen Relikt. Rhinow selbst, die kleinste Stadt im Havelland, zeigt sich mehr und mehr im Schmuck renovierter farbiger Hausfassaden. Wir hatten den kleinen Ort sehr schnell passiert und rollten auf Stölln zu, das uns an die Flugversuche Otto Lilienthals erinnert. Im Gasthaus zum Ersten Flieger hatte man den schwer verletzten Flugpionier nach seinem Absturz am 8. August 1896 zuerst behandelt, bevor er nach Berlin geschafft wurde, wo er bereits am nächsten Tag seinen Verletzungen erlag.
Natürlich erwiesen wir der "Lady Agnes" unsere Reverenz. Eine ausrangierte riesige Verkehrsmaschine der ehemaligen DDR-Fluggesellschaft Interflug war im Oktober 1989 nach waghalsiger und halsbrecherischer Landung auf der Wiese vor dem Ort der Bürgermeisterin als Denkmal zur Erinnerung an den Flugpionier Lilienthal übergeben worden. Bevor wir die erinnerungsträchtige Region Stölln verließen, besuchten wir den 100 m hohen Gollenberg, der rd. 80 m aus der Ebene sehr steil emporragt und von dem Lilienthal zu seinem letzten Flug gestartet war. An der Absturzstelle erinnert ein kleines Denkmal an diese Pioniertat der Fliegerei. Eine dunkelrote Rose schmückte die Gedenkstätte an diesem Morgen. Vom Gollenberg hat man einen weiten Blick hinaus ins flache grüne weite Rhinluch. Diesen Ausblick genoß vor rund 220 Jahren einst Friedrich der Große auf einer Besichtigungsreise durchs Rhinluch nach den von ihm angeordneten Entwässerungsmaßnahmen zur Trockenlegung des Sumpfgebietes. An diesem stillen Sonntagmorgen hinein hörte man nur das Geräusch eines über uns hinweggleitenden Motorseglers, der auf dem Flugplatz Stölln gestartet war.
Eine große Schafherde zog den Ackerrain hinauf und wirbelte im Gegenlicht eine riesige Staubwolke auf, ein warmer Spätsommertag zog herauf. Wir passierten kleine Siedlungen im Weideland, überquerten den kleinen havelländischen Hauptkanal und bald darauf auch den Rhinkanal. Schwargefleckte Milchrinder grasten zu beiden Seiten unseres Weges. Imschmucken Dorf Dreetz mit breiter Angerstraße entdeckten wir vor der Heimatstube einen einladenden Tisch mit neu gestrichenen Bänken, für unsere Mittagsbrotzeit wie geschaffen. Gestärkt radelten wir von hier aus über Friesack hinaus und gerieten auf den abschließenden Streckenabschnitten in warmen heftigen Gegenwind, der unsere Kraftreserven arg strapazierte. Von Paulinenaue aus fuhren wir wieder heimwärts nach Finkenkrug bzw. bis nach Berlin. Mein erster Radlerfilm war im Kasten. Vielfältige, lebendige Natureindrücke aus dem stadtfernen Luchland nahmen wir mit nach Hause. Schön war´s. H.-U. Rhinow
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